"Und nu?" So lautet die am häufigsten gestellte Frage an alle, die gerade Abitur gemacht haben - knapp 400 000 Menschen pro Jahr. Früher hieß es dann: "Ich studiere jetzt Medizin, Maschinenbau oder Marketing." Ganz früher hieß es: "Ich mache Bundeswehr oder Zivi." Heute heißt es immer öfter: "Ich mache Gap Year", also ein Jahr Pause. Für mich klang das lange so wie: Ich mache jetzt 12 Monate lang nichts. Allmählich dämmert mir aber: Diese 12 Monate sind extrem wichtig.
Mein Sohn ist 2006 geboren und somit Leidtragender eines fiesen Schul-Experiments: G8, also Abitur nach 8 Gymnasialjahren. Nicht, dass man den Stoff nicht auch in dieser Zeit abhandeln könnte: Für zahllose Wander-, und Projekttage bleibt schließlich immer noch genügend Muße, und selbst Achtklässler sitzen trotz des vollmundigen Stundenplans jeden Mittag um 13 Uhr Zuhause. Dazu kommen Kurzstunden, Krankheitsausfälle und Kinovormittage (Lehrerkater) mit steinalten Filmen. Gymnasium heute, das bedeutet minimalistische Mangelverwaltung mit maximaler Eigenverantwortung. Und auf diesem Behördenkomposthaufen schimmeln alle paar Jahre halbherzig durchdachte Ruckel-Reformen - so wie G8.
Das G steht übrigens für Ganz früh fertig und Gar nicht bereit für alles Weitere. Die Jugendlichen stehen quasi über Nacht blank da. Viele Jahre haben sie wie ein Lern-Entsafter funktioniert: Stoff oben rein, Noten unten raus. Jetzt sollen sie am Morgen nach der Abifeier einen durchdachten Zukunftsplan vorlegen. Und das, wo die Nachrichten jeden Tag unken: Zukunft - das war mal!
Nachdem sie sich durch Trigonometrie und Gedichtinterpretation gewürfelt haben, stehen Hunderttausende wie beim Monopoly plötzlich wieder auf dem Startfeld. Gehe zurück auf Los! Ziehe nicht 4000 Euro ein! Ich gestehe: Als Mutter würde es mich beruhigen, wenn mein Kind sofort einen ausgeklügelten Plan für die nächsten vier Jahre vorlegen würde. Etwa so: "Erst mach ich drei bezahlte Praktika bei internationalen Organisationen, um die ich mich natürlich selbst kümmere, dann einen zweimonatigen Spanischkurs in Mexiko, den ich mir mit Jobs selbst finanziere, ab Herbst bin ich für BWL eingeschrieben, was ich nach drei Jahren abschließe, um dann dick Kohle zu scheffeln." Ein feuchter Elterntraum.
Diesen Traum hatten meine Eltern übrigens auch: Ich erinnere mich mit Frösteln an den "Was-Jetzt-Pep Talk", den mir die beiden 1992 verpasst haben. Ich könne ja zur Beruhigung aller eine Banklehre anfangen, das sei was Solides. Wir können dem Himmel danken, dass ich abgelehnt habe. Mein Umgang mit Geld hätte eine internationale Finanzkrise ausgelöst. Stattdessen eröffnete ich ihnen: Ich wolle Geistenswissenschaften studieren (Die Fächer habe ich mir auf der Fahrt zur Uni ausgesucht). Die: Okay. Aber 1) zieh es durch und 2) mach das Beste draus. Beides habe ich getan.
Ich gebe zu: Ich bin ungeduldig. Ich will Ergebnisse sehen. Ich will, dass was vorwärtsgeht. Ich habe Jahre in Hausaufgabenbetreuung, Nachhilfe, Elterngespräche gesteckt. Es ist ein Tauschgeschäft: Ich will etwas zurückhaben - zumindest dachte ich das immer. Stillstand ist schrecklich. Und doch will mein Sohn genau das. Nach einem brillanten Einser-Abi steigt er erstmal auf die Bremse, um Musik zu machen. Rumms. Sofort entsteht in meinem Kopf ein Hollywoodfilm über einen jungen Mann mit einer beispiellosen Erfolgsgeschichte. Ich sehe ihn auf der Grammy-Bühne stehen und uns Eltern unter Tränen danken. Er wird mir ein Haus am Meer und Enkel schenken, ich werde die reichste und glücklichste Oma Deutschlands.
Doch dann ist da noch die Realität: Selbst die Formel Talent + Muße = Karriere geht nicht immer zwingend auf. Was, wenn sich aus dieser Pause gar kein Erfolg ergibt? Was, wenn er einfach ein paar Nebenjobs macht, ein paar Lieder produziert und schlicht ein Jahr älter wird? Wir alle kennen diese Leute, bei denen das Gap-Year nie vorbei ist. Mit 32 überlegen sie, welche Berufsausbildung sie jetzt starten könnten, während das Leben selbst sie überholt hat. Zwischen Pause und Absturz liegen oft nur ein paar Vormittage, an denen kein Wecker klingelt.
Was also ist es, was mich an diesem Jahr so triggert? Die Angst, mein Sohn könne abgehängt werden? Nein. Mir ist klargeworden: Es geht gar nicht um ihn, es geht um mich. Gap heißt übersetzt Lücke oder Kluft. Und das macht mir Muffensausen. Aber mein Sohn geht mutig voran und stellt sich der Unsicherheit. Und das macht er goldrichtig. Denn die Schule bereitet Dich, wenn überhaupt, nur aufs Abi vor - nicht aufs Leben.
Bei der Abschlussfeier beeilte sich der Rektor, allen politische Handlungsrichtlinien mit auf den Weg zu geben. Kein Wort darüber, dass das Gehirn mal richtig auslüften muss, dass man seinen Weg erst suchen darf. Es gibt ein legendäres Video von Motivations-Guru Gary Vaynerchuck. Es heißt: Close your eyes until you're 29. Also, schließ die Augen, bis Du 29 bist. Darin fleht er Schulabsolventen und Berufsanfänger an, sich Zeit zu lassen. Selbst, wenn sie drei, vier Dinge ausprobieren, haben sie immer noch ihr ganzes Berufsleben vor sich. Sein Appell ist indes klar: Tut was! Betreibt Ahnenforschung, reist um die Welt, macht Musik, gründet ein Startup, produziert Content, absolviert Praktika - tut irgendwas! Seid fleißig, glaubt an Euch und habt Geduld. Der Rest fügt sich von selbst.
Das Gap Year ist eben nicht das große Gammeln. Es ist Leben-Lernen - für Kinder und für Eltern.
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